Es gibt Orte, die wirken, als seien sie nicht von dieser Welt. Orte, die uns daran erinnern, wie gewaltig und geheimnisvoll die Natur sein kann. Einer dieser Orte liegt nur eine knappe Autostunde von Salzburg entfernt, hoch über dem Tal der Salzach: die Eisriesenwelt Werfen, die größte Eishöhle der Welt. Wer sie betritt, betritt ein Reich, das seit Jahrtausenden existiert und doch jeden Sommer von Neuem seine Pforten für Entdecker öffnet.
Der Weg beginnt schon abenteuerlich. Von Werfen aus windet sich die Straße hinauf zum Besucherzentrum, von dem man einen grandiosen Blick auf die Festung Hohenwerfen hat, die wie ein steinerner Wächter über dem Tal thront. Doch das eigentliche Abenteuer beginnt erst danach. Eine Seilbahn bringt die Besucher hinauf, näher an den gewaltigen Höhleneingang, der wie ein schwarzes Maul im Felsen liegt. Allein dieser Anblick lässt den Puls schneller schlagen. Die Luft wird kühler, der Wind pfeift, und man ahnt, dass man gleich eine andere Welt betreten wird.
Schon beim Eintreten schlägt einem ein eisiger Luftzug entgegen, selbst an den heißesten Tagen des Jahres. Die Temperatur fällt schlagartig auf wenige Grad über null, und der Atem bildet kleine Wolken. Eine Karbidlampe wird entzündet, die kleine Flamme flackert, und plötzlich ist man Teil einer Expedition. Denn obwohl die Eisriesenwelt heute gut erschlossen ist, hat sie ihren abenteuerlichen Charakter nicht verloren.
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Die ersten Schritte führen durch den gewaltigen Eingangsbereich, dann beginnt der eigentliche Aufstieg durch die Höhle. Über 700 Stufen warten, doch der Anblick macht jeden Schritt lohnenswert. Vor den Augen tauchen bizarre Eisformationen auf: Säulen, die wie gefrorene Riesen wirken, Wände aus glitzerndem Kristall, gefrorene Wasserfälle, die in der Karbidlampenbeleuchtung wie erstarrte Flüsse aus Glas schimmern. Manche der Hallen sind so groß, dass man sich winzig vorkommt. Andere sind schmal, sodass man sich fast ducken muss, um hindurchzugehen.
Die Stille in der Höhle ist beeindruckend. Nur das Knirschen der Schritte und das Tropfen von Wasser sind zu hören. Es ist eine Stille, die nicht leer ist, sondern erfüllt – von der Gegenwart der Natur, die hier seit Jahrtausenden arbeitet. Manche der Eisformationen sind älter als unsere Zivilisation, andere entstehen jedes Jahr neu, wenn Schmelzwasser in die Höhle dringt und in der Kälte gefriert. Die Höhle ist ein lebendiges Kunstwerk, das sich ständig verändert und doch ewig wirkt.
Für Besucher ist dieser Ort ein unvergessliches Erlebnis. Er zeigt eine Seite der Alpen, die man sonst nicht sieht: das verborgene Innere des Berges. Wer die Eisriesenwelt durchschreitet, begreift, wie klein der Mensch im Vergleich zur Natur ist – und gleichzeitig, wie privilegiert, einen Blick in diese verborgene Welt werfen zu dürfen.
Doch auch für Einheimische ist die Eisriesenwelt ein Schatz. Sie ist ein Stück Heimat, das man immer wieder neu entdecken kann. Viele Salzburger besuchen die Höhle nicht nur einmal im Leben, sondern kehren zurück, um die Veränderungen zu sehen, die der Lauf der Jahreszeiten mit sich bringt. Denn obwohl der Rundgang jedes Jahr derselbe ist, ist die Höhle selbst nie genau gleich. Mal sind die Eisgebilde besonders groß, mal schimmern sie in einem anderen Blau, je nach Licht und Feuchtigkeit.
Die Eisriesenwelt ist ein Weltunikat, nicht nur wegen ihrer Größe – über 40 Kilometer erstreckt sich das gesamte Höhlensystem –, sondern auch wegen ihrer Schönheit. Der für Besucher zugängliche Teil ist nur ein kleiner Ausschnitt, aber er reicht, um einen Eindruck von der gewaltigen Dimension zu bekommen. Man verlässt die Höhle mit einem Gefühl von Ehrfurcht und Staunen, fast so, als hätte man einen heiligen Ort betreten.
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Besonders eindrucksvoll ist der Moment, wenn man nach dem Rundgang wieder ins Freie tritt. Das Licht blendet, die Sonne wärmt das Gesicht, und die Welt draußen wirkt heller, lebendiger, fast lauter als zuvor. Man hat nicht nur eine Höhle gesehen, man hat eine Reise gemacht – ins Innere des Berges, in eine Welt aus Eis und Dunkelheit, die einem dennoch voller Schönheit begegnet ist.
Die Eisriesenwelt ist kein Ort für Eile. Sie verlangt Aufmerksamkeit, Respekt, Bereitschaft, sich auf die Langsamkeit einzulassen. Und genau das macht sie so wertvoll in einer Zeit, in der alles schnell, laut und grell ist. Hier oben, zwischen Himmel und Fels, lernt man wieder, zu staunen.
Wer Salzburg besucht, sollte sich dieses Naturwunder nicht entgehen lassen. Es ist ein Kontrast zu den barocken Kirchen, den Gassen der Altstadt, den Konzerten und Cafés. Es ist Salzburgs wilde, ungezähmte Seite – eine Erinnerung daran, dass diese Stadt nicht nur aus Kultur besteht, sondern auch aus Natur, die seit Jahrtausenden da ist. Und wer in Salzburg lebt, sollte die Eisriesenwelt mindestens einmal gesehen haben, um das Privileg zu spüren, eine solche Weltrarität so nah vor der Haustür zu haben.
Vielleicht ist das das größte Geschenk, das die Eisriesenwelt macht: Sie lässt einen die Welt mit neuen Augen sehen. Man tritt hinaus aus der Dunkelheit, sieht die Berge, die Täler, den Fluss – und spürt eine tiefe Dankbarkeit. Dafür, dass es solche Orte gibt. Dafür, dass man sie erleben darf. Dafür, dass die Natur uns immer wieder zeigt, wie groß sie ist – und wie klein wir sind, ohne je das Gefühl zu geben, dass das etwas Schlechtes wäre.
